Hallo Liam – herzlich willkommen! Schön, dass du uns heute Rede und Antwort stehst zu einem neuen Themenbereich, den 100% SPORT nun auch durch deine Person abdecken kann. Gleich zu Beginn eine Frage, und zwar, was hat es mit den Personalpronomen auf sich?

Ein herzliches Hallo allerseits. Gerne gehe ich auf die Frage ein: in der direkten Kommunikation miteinander oder auch indirekten Kommunikation übereinander werden Verknüpfungen bzw. Assoziationen zwischen sprachlichen Begriffen und dem Geschlecht hergestellt. 

Um etwaigen Unsicherheiten und Unklarheiten oder/ und unangenehmen Situationen vorab entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, die selbst gewünschte Anrede und Pronomen-Verwendung proaktiv vorzustellen. Ebenso kann beim Gegenüber nachgefragt werden. Es ist nämlich gut möglich, dass wir in unseren Annahmen irren und Personen, ungeachtet ihrer individuellen Identität, unbewusst Schubladen zuordnen, die wir für uns zurechtgelegt haben. Auf unsere Gewohnheit, von körperlichen Aspekten (Erscheinungsbild, Klang der Stimme, Name) auf die individuell passende Anrede zu schließen, ist in Bezug auf die Selbstbestimmung einer Person manchmal kein Verlass. 

All diese Aspekte kommen noch stärker zum Tragen, wenn über Personen gesprochen bzw. geschrieben wird, deren Geschlechtsidentität unbekannt ist. Neben den im Deutschen üblicherweise verwendeten Pronomen „sie/ihr“ (weiblich) und „er/ihm“ (männlich) gibt es zahlreiche individuell ausgestaltete geschlechtsneutrale Pronomen. Diese können einen sehr persönlichen und wichtigen Zugang zur eigenen Geschlechtsidentität darstellen und ihre Seinsform bestärkend wirken.

Unabhängig davon, wie ungewohnt es auf den ersten Blick auch wirken mag, ist es ein wichtiger Schritt im Sinne der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und Gleichbehandlung, auf die gewünschte Ansprache von Personen einzugehen.

Sehr spannend! Dankeschön. Möchtest du dich weiter kurz vorstellen?

Sehr gerne! Mein Name ist Liam Strasser und ich bin seit einigen Wochen neu im Team von 100% SPORT. Mit dem Jahreswechsel bin ich nun auch offiziell ein Teil davon. Ich fühle mich bereits angekommen, vor allem, weil ich Euren Empfang als sehr wohltuend und offen empfinde. Als Fachreferent für den Themenbereich “geschlechtliche Vielfalt im Sport” darf ich meinem Interessengebiet Ausdruck verleihen und freue mich sehr, damit das Team verstärken zu können. Weitere Interessensgebiete wären etwa die Kletterei, oder das Abenteuern, liebend gern lerne ich neue Personen kennen, außerdem bin ich künstlerisch tätig und verrichte physische Arbeit mit Leidenschaft.

Wie genau bist du zu dem Thema gekommen und warum 100% SPORT?

Während meines Studiums der Sportwissenschaft an der Uni Wien nahm ich an einem Erasmus+ Austausch teil, wo Geschlechtervielfalt und Gleichberechtigungsfragen im Mittelpunkt standen. Von da an habe ich mich intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt und mich dann in meiner Bachelorarbeit darauf spezialisiert. Hier stand neben dem Leistungssport vor allem auch die rechtliche Situation in Österreich und der EU im Fokus.

Während der Recherchearbeiten habe ich auch die verschiedensten Organisationen in der österreichischen Sportlandschaft genauer unter die Lupe genommen und festgestellt, dass sich der Sport gerne als Platz für alle präsentiert, es in Bezug auf Teilnahmemöglichkeiten bestimmter Personengruppen jedoch erhebliches Verbesserungspotential gibt.

Dabei bin ich auch auf 100% SPORT aufmerksam geworden. Als Zentrum für Genderkompetenz war es für mich naheliegend, hier eine gewisse Sensibilität für Geschlechtergerechtigkeit vorzufinden und tatsächlich kam diese Kontaktaufnahme scheinbar zum richtigen Moment. Das Sportministerium hatte 100% SPORT 2021 damit beauftragt, sich verstärkt auch dem  Thema Geschlechtervielfalt im Sport zu widmen. Zu meinem Glück muss ich sagen, denn nun darf ich mich diesem Themenbereich offiziell widmen.

Wie schätzt du die aktuelle Lage zum Thema auf internationaler Ebene im Sport ein und wie sieht es da in Österreich aus? “Wie weit” sind wir in der Geschlechtervielfalt im Sport?

Auf internationaler und auch nationaler Ebene ist das Thema im Sport bereits länger auf dem Tisch, als ich alt bin, in Österreich sogar doppelt so lang! Erika Schinegger gewann bei ihrer ersten Weltmeisterschaft in Portillo Abfahrts-Gold. 1968 wurde im Zuge von “Sex-Tests” zu allseitiger Verwunderung festgestellt, dass sie männliche Chromosomen aufwies. Es folgte ein Ausschluss Schineggers auf internationaler und nationaler Ebene. 

Seither ist in Österreich, zumindest von offizieller sportpolitischer Seite aus, NICHTS in Richtung Partizipationsmöglichkeiten aller Geschlechter geschehen. 53 (!) Jahre – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Weder im Spitzensport, noch im Breitensport, obgleich auf nationaler Ebene wesentlich mehr Freiheiten bestünden, um etwa Regelwerks-Gestaltungen inklusiver zu machen, wurde davon bisher noch kein Gebrauch gemacht. Im Vergleich dazu wurden auf internationaler Ebene 2021 in dieser Hinsicht fortschrittliche Haltungen (bspw. IOC, DOSB) eingenommen, die sehr beflügelnd wirken.

Auf Basis der rechtlichen Grundlage (bspw. Eintragungsmöglichkeiten des Geschlechts im Personenstandsgesetz) repräsentiert Österreich ein einzigartiges Musterbeispiel, was jedoch die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. das Bewusstsein für geschlechtliche Vielfalt angeht, sieht es nicht so rosig aus. Hier gibt es erhebliches Verbesserungspotential, um zu Sichtbarkeit und Verständnis beizutragen.

Hierbei kommt dem Sport als größte Freizeiteinrichtung eines Landes ein spezieller Stellenwert zu: Menschen aus verschiedensten Hintergründen (z.B. kulturell gesehen), Umfeldern (arbeitstechnisch) und Zugängen (Motive, um Sport zu treiben) kommen zusammen und mischen sich. Ein bunter Haufen also, wo garantiert eines passiert: Austausch. Menschen reden miteinander, spielen gegeneinander, bauen Vertrauen zueinander auf und nehmen einander wahr. Was in anderen Bereichen nicht so leicht fällt, nämlich Geschlechtervielfalt nach außen zu kommunizieren, das kann dem Sport gelingen.

Wir als 100% SPORT sind uns dieser möglichen Tragweite bewusst und bemühen uns darum, aktiv zum Abbau von Vorurteilen und Marginalisierung beizutragen und vor allem auch Diskriminierung entgegenwirken. Dazu benötigt es eine flächendeckende Grundsatzentscheidung im Sport: Ja, wir wollen allen Personen den Zugang zum Sport ermöglichen und zwar unabhängig von Geschlecht(sidentität). In der Vielfalt liegt eine ungeahnte Chance, als Gemeinschaft zusammenzuwachsen, anstatt ständig das Trennende vor das Verbindende zu stellen.

Jetzt hören wir immer wieder Argumente, dass das nur eine sehr kleine Personengruppe im Sport betreffen würde und es deswegen nicht dafür stehe alle Reglements und Richtlinien dahingehend zu adaptieren. Wo siehst du hier Chancen und Herausforderung und was kann 100% SPORT durch den neu geschaffenen Bereich dazu beitragen?

Es gibt immer Personen, die Vorbehalte haben. Meistens liegt das, denke ich, an einem fehlenden Bezug zum eigenen Leben. Dingen, über die man selbst wachen kann, steht man relativ sattelfest gegenüber während Unbekanntes meist skeptisch beliebäugelt wird. Das ist auch gut so und hat seine Berechtigung, keine Frage. Aber genau darin liegt auch der Hund begraben, denn durch Unwissenheit bzw. Untätigkeit/ Desinteresse tragen wir alle dazu bei, dass Personen im unmittelbaren Umfeld nach wie vor um ihre (Menschen)Rechte kämpfen müssen, anstatt diese als Selbstverständlichkeit betrachten zu können. Allein die Existenz solcher Gedanken ist Grund genug, diesem Thema im gesellschaftlichen Diskurs eine größere Gewichtung zu verleihen, denn genau so kann es sich zutragen, dass Fremdbestimmung über Eigenbestimmung überhaupt erst zur Normalität werden konnte. Eine geringe Anzahl an betroffenen Personen darf kein Argument gegen ein bestimmtes Vorgehen sein, im Gegenteil die Dringlichkeit aufzeigen, dass allerhöchster Handlungsbedarf gegeben ist.

Um der Sensibilisierung für Geschlechtervielfalt und der Sichtbarkeit von ungleichen Geschlechterverhältnissen in der Gesellschaft Auftrieb zu verleihen, ist ein Austausch zwischen Stakeholder*innen des Sports und Interessenvertretungen geschlechterdiverser Personen eine Grundvoraussetzung. Aus diesem Grund hat 100% SPORT einen solchen im September 2021 veranlasst. In dessen Zuge konnten die Weichen für einen offenen Austausch bezüglich Herausforderungen für Sportler*innen und Sportorganisationen gelegt werden.

Im Rahmen des Austausches ist etwa die Erkenntnis geboren, wie durch die Nutzung eines geschlechtersensiblen Sprachgebrauchs dem Gegenüber auch in der Sprache Wertschätzung entgegengebracht werden kann. Dieser befindet sich soeben in der Entstehung und stellt einen ersten großen Schritt dar, dem viele weitere folgen werden. Auf jeden Fall gilt es, ein starkes Netzwerk zu formen, das über nationale Grenzen hinweg geht, eine Plattform für good practice / lessons learned bereitzustellen, Geschlechtervielfalt für Ausbildungswege und Medien aufzubereiten, Partizipationsmöglichkeiten für alle Geschlechter zu schaffen und allen Personen zu signalisieren, dass sich die österreichische Sportwelt im Wandel befindet, an dem man sich aktiv beteiligen kann. Denn eins ist gewiss: es liegt an uns allen, für Geschlechtergerechtigkeit zu sorgen.

DANKE für das Gespräch!